Diskriminierung von „Alten“ am Beispiel der Coronakrise – ein Essay


Am Beispiel der Corona-Krise lässt sich eine Herabwürdigung der älteren Bevölkerung gut belegen. Es ist richtig, dass auch manche ältere Menschen besonders schützenswert sind, um vor den Folgen einer Infektion mit SARS-CoV-2 bewahrt zu bleiben. Aber nicht alle älteren Menschen sind schutzbedürftig. Sie bilden keine homogene Gruppe. Durch eine Vereinfachung solcher Aussagen werden negative Altersbilder bekräftigt, die dann beim weiteren Umgang mit der Krise auch Grundlage für diskriminierende Regelungen und Aussagen sind.

18.06.2020
Dr. med. Tobias Frank

Diskriminierende Aussagen

Alte haben sowieso keine Lebenserwartung mehr

Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären. – Boris Palmer, 28.04.2020

An dieser Stelle muss man sich zunächst fragen, was „alt“ bedeutet (s.a. hier). Laut einer Umfrage der Europäischen Kommission im Jahr 2012 glauben Deutsche, dass man ab einem Alter von 57 Jahren alt sei. Laut DESTATIS, dem statistischen Bundesamt, beträgt die Lebenserwartung in diesem Falle noch 25 Lebensjahre für Frauen und 21 Lebensjahre für Männer. Im Alter von 80 Jahren beträgt die Lebenserwartung noch 9,5 Lebensjahre für Frauen und 8 Lebensjahre für Männer (Durchschnittliche Lebenserwartung, Periodensterbetafel).

Für die Zuteilung von Ressourcen des Gesundheitssystems ist eine Pauschalisierung von „alt“ und „nicht-alt“ generell nicht zulässig, da Alter aus unserer Sicht auch kein starrer Begriff sein kann. Zulässig ist hingegen, dass eine Zuteilung von Ressourcen (insbesondere intensivmedizinische) nach Dringlichkeit, Erfolgsaussicht und ´Rettet die Retter´ erfolgt. Anzumerken ist außerdem, dass Grundlage jeder Therapieentscheidung im Gesundheitswesen auf der Indikation und dem Patientenwillen begründet sein muss. Dieses Thema wird aktuell extrem kontrovers diskutiert. Teilen Sie mir Ihre Meinung mit! Vielleicht haben Sie selbst besondere Erfahrungen gemacht?

Längere Leben sind mehr wert als jüngere

„Älteren Menschen (was auch immer das heißen soll …) liegen uns auf der Tasche. Sie verprassen das Geld der hart arbeitenden Bevölkerung und tragen nichts mehr zum Wirtschaftserfolg des Staates bei.“

Negative Auswirkung des demographischen Wandels ist, dass immer mehr Menschen in Deutschland von Pflegebedürftigkeit betroffen sein werden. Im Dezember 1999 gab es 2,02 Millionen Pflegebedürftige, im Dezember 2009 war ihre Zahl auf 2,34 Millionen gestiegen und im Dezember 2017 waren 3,41 Millionen Menschen pflegebedürftig. Daraus ergeben sich entsprechende Mehrkosten für das Gesundheitssystem. Auch die Tatsache, dass die meisten Behandlungen und Maßnahmen des Gesundheitssystems in den letzten Monaten eines Lebens erfolgen, führt zum Vorurteil, dass ältere Menschen allgemein „wertlos“ seien.

Die Komponenten des demographischen Wandels sind Geburten, Sterbe­fälle und die Differenz zwischen den Zuzügen nach und Fortzügen aus Deutschland. Die zahlenmäßig starken Jahrgänge der Babyboom-Generation wachsen nun ins hohe Alter hinein. Zugleich wird die Anzahl potenzieller Mütter in den nächsten 20 Jahren voraus­sichtlich zurück­gehen, da die schwach besetzten 1990er Jahrgänge in die gebär­fähige Alters­phase kommen. Man könnte auch postulieren, dass die geringe Anzahl der Kinder von Menschen im mittleren Lebensalter ein Hauptgrund des demografischen Wandels sind und nicht (nur) die hohe Anzahl Älterer.

Am meisten leiden sowieso die Rentner am demographischen Wandel. Auf der Basis des aktuellen Rentenrechts würde die Standardrente bis 2060 von 48 auf 43,7 Prozent des Durchschnittsverdiensts sinken. Es wird immer mehr Altersarmut geben. Rentner versuchen daher ihr Einkommen zu verbessern. Jenseits des Renten­eintrittsalters hat sich der Anteil der Erwerbs­tätigen in kurzer Zeit mehr als verdoppelt. 2008 arbeiteten die 65- bis 69-Jährigen noch zu 8 %. Im Jahr 2018 lag der Anteil bei 17 %. Damit tragen auch Rentner zur Begrenzung der Rentenlücke bei.

Dass unsere ältere Bevölkerung keinen Beitrag zur Volkwirtschaft beiträgt ist überdies falsch. Über 65-jährigen Eltern geben das Siebenfache dessen für ihre Kinder aus, was sie von diesen an finanziellen Mitteln zurückbekommen. Außerdem konsumieren Menschen in der zweiten Lebenshälfte fleißig. Die über 60-Jährigen verfügen pro Kopf über die höchste Kaufkraft. Inzwischen entfallen rund 30 Prozent aller Konsumausgaben auf sie.

Wir müssen die Alten schützen

Bezugnehmend auf die Coronakrise muss festgestellt werden, dass die meisten Covid-19-Fälle zwischen 15 und 59 Jahre alt sind (67%). Nur 19% aller Fälle sind 70 Jahre oder älter. Allerdings betreffen 86% der Todesfälle Personen, die 70 Jahre oder älter sind. Der Altersdurchschnitt Verstorbener liegt bei 81 Jahren. Besorgniserregend ist auch, dass sich die höchsten Neuinfektionsraten in den Altersgruppen ab 90 Jahren finden, mutmaßlich wegen lokaler Ausbrüche in Pflegeheimen. In einem Bericht des chinesischen Zentrums für Krankheitskontrolle und Prävention lag die Sterblichkeitsrate bei den 70- bis 79-Jährigen bei 8 und bei den über 80-Jährigen bei 15 Prozent, im Gegensatz zu 2,3 Prozent in der gesamten Kohorte.

Zusammenfassend lassen die Daten den Schluss zu, dass ältere Menschen besonders schützenswert sind. Dem will ich nicht widersprechen. Schwere Covid-19 Infektionen mit Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung können aber bei ansonsten gesunden Personen jeden Alters auftreten. Wichtig ist, dass schwere Verläufe bevorzugt bei schweren zugrunde liegenden Vorerkrankungen oder Risikofaktoren auftreten. Demnach gibt es vier Top-Risikofaktoren: Alter, männliches Geschlecht, Fettleibigkeit und Vorerkrankungen. Sind Patienten über 50 Jahre, männlich, fettleibig oder leiden an einer Herz-, Lungen-, Leber- oder Nierenerkrankung, haben sie laut aktueller Studienlage eine höhere Wahrscheinlichkeit, auf die Intensivstation zu kommen oder sogar an Covid-19 zu sterben. Die Risikoeinschätzung muss also immer individuell erfolgen und kann nicht auf nur einen Risikofaktor (Alter) pauschalisiert werden. Werden Sie aktuell auch wie ein rohes Ei behandelt? Glauben Sie das ist gerechtfertigt?

Es ist typisch für unsere Gesellschaft, dass wir ältere Menschen und chronisch Kranke in einem Atemzug nennen und somit eine „Pathologisierung“ des Alters erfolgt. Es besteht oft eine Gerontophobie, d.h. ein fehlender Wille zur Auseinandersetzung mit Problembereichen des Alters und des Alterns. Daraus folgt oft ein therapeutischer Nihilismus, also das Vorurteil, ältere Menschen seien nicht mehr therapierbar bzw. „therapieunwürdig“.

In meinem klinischen Alltag erlebe ich selbst sehr oft die pauschale Ablehnung einer Therapiemaßnahme aufgrund des Alters ohne sich über des biologischen Zustand oder Therapiewillen der Person zu erkundigen. Dabei sehe ich oft auch sehr rüstige Menschen mit 80 Lebensjahren und älter, die völlig selbständig und aktiv ihr Leben führen. Demgegenüber kann auch ein 58-jähriger bereits sehr gebrechlich sein, z.B. aufgrund seines Lebensstiles (Fettsucht, Rauchen, Bluthochdruck, Alkoholmissbrauch) mit daraus folgenden kardiovaskulären Erkrankungen.

Folgen der Altendiskriminierung

Durch eine Vereinfachung des Altenbegriffes und dadurch, dass es in einen krankhaften Kontext gesetzt wird, werden negative Altersstereotype schnell übernommen. Und zwar sowohl von der Allgemeinbevölkerung, von Medizinern, als auch von Menschen im höheren Lebensalter.

Durch die zwanghafte Isolation kommt es unweigerlich zu weniger Sozialkontakten bei der älteren Bevölkerung. Viele Familien meinen es gut, da sie ihre „Lieben“ ja nicht anstecken wollen. Heute berichtete mir eine Nachbarin, sie habe ihre Eltern, die wenige Häuser weiter wohne seit 3 Monaten nicht mehr kontaktiert. Essen und Trinken werde nur noch vor die Tür gestellt. In der Washington Post ist ein eindrucksvoller Artikel erschienen, der den Alltag einer 73-jährigen Dame in den USA aufzeigt:

„Ein Tag kann sich ewig hinziehen, wenn man ganz alleine isoliert ist. Ich schlafe, so lange ich kann. Ich versuche, nicht auf die Uhr zu schauen. Ich gehe auf Facebook und lese über all die Wege, wie dieses Land zur Hölle fährt. Ich schalte den Fernseher ein, um ein bisschen Gerede zu hören. Es ist fast sieben Wochen her, dass ich Zeit mit einem echten, lebenden Menschen verbracht habe. Ich habe niemanden berührt oder wirklich auch nur angeschaut, und das lässt mich anfangen, über leichtsinnige Taten nachzudenken …“ – Auszug von Gloria Jackson, „I apologize to God for feeling this way.

Negative Stereotype führen zu einen verminderten Selbstwertgefühl. Zu Beginn der Coronakrise war es durchaus üblich unsere älteren Patienten mit hochgezogenen Augenbrauen zu fragen, ob sie sich denn bei einer Viruslungenentzündung etwa noch beatmen lassen wollen. Diverse ältere Menschen sahen sich gedrängt das zu verneinen, auch wenn sie es eigentlich nicht so meinten. Haben Sie ähnliches erlebt oder gefühlt?

Ist der Mensch dann weniger positiv aufgestellt, folgen Depression und ein erhöhtes Krankheitsrisiko. Man lässt sich hängen, macht weniger Sport, ist einsam. Es gibt auch indirekte Krankheitsfolgen der Coronakrise, die ohne Ansteckung auftreten. Uns wird gerade bewusst, wie viele Personen krank zu Hause blieben, Operationen wurden verschoben und Vorsorgeuntersuchungen wurden unterlassen. Es wird beispielsweise geschätzt, dass ca. 30% weniger Schlaganfälle in Deutschland behandelt wurden.

Vor einer Woche habe ich Fr. T., 83 Jahre, in der Notaufnahme behandelt. Sie kam mit Brustschmerzen und hatte einen Herzinfarkt. Sie wurde erfolgreich per Herzkatheterintervention behandelt. Die Brustschmerzen hätten 10 Tage zuvor begonnen, nachdem ihre Schwiegertochter an Covid-19 erkrankte. Das hat offensichtlich ihr Herz gebrochen …

Antidiskriminierungsgesetz – Rechtliche Grundlagen gegen eine Ungleichbehandlung

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 3, besagt, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Das Alter wird nicht explizit genannt und dementsprechend gibt es noch dringenden Aufklärungsbedarf über das Thema Altendiskriminierung.

Zusammenfassend ist jedes menschliche Wesen schützenswert. Ein Beurteilung nach Kriterien wie sozialer Status, Alter, Geschlecht, Herkunft oder Behinderung verstößt gegen diesen Gleichheitsgrundsatz. Menschen dürfen nicht auf ein bestimmtes Merkmal und eine Gruppenzugehörigkeit reduziert werden.

Eine Antwort zu „Diskriminierung von „Alten“ am Beispiel der Coronakrise – ein Essay”.

  1. Karl-Heinz Lasota

    Ein sehr interessanter Bericht, der zu einem intensiven Nachdenken anregt.

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