Polyneuropathien im Alter


Polyneuropathien (PNP) sind generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems. Insbesondere die nicht-genetischen Formen (entzündlich, durch Gifte, beim Diabetes oder Vitaminmangel) treten im höheren Lebensalter auf. Per Vorgeschichte und klinischem Befund können die meisten PNP zu- und durch wenige Laboruntersuchungen eingeordnet werden. Die PNP ist häufig ein Zufallsbefund in der körperlichen Untersuchung. Der Umfang der weiteren Diagnostik richtet sich nach dem Ausmaß und Verlauf der klinischen Ausfälle und der Wahrscheinlichkeit einer zugrunde liegenden Erkrankung für den Patienten. Beim Zufallsbefund PNP nach unklarem Sturz sollte an eine Gangstörung oder eine autonome Störung mit orthostatischer Intoleranz bei PNP gedacht werden, die mit erhöhtem Risiko weiterer Stürze verbunden sind.

Von Dr. med. Tobias Frank

Hätten Sie an eine Polyneuropathie gedacht?

Fr. B., 78 Jahre alt, wurde uns zur geriatrischen Rehabilitation vom Medizinischen Dienst der Krankenkasse zugewiesen. Die ehemalige Kosmetikerin beklagt schon länger einen ungerichteten Schwindel und eine Gangstörung. Sie kommt an zwei Walkingstöcken gehend auf unsere Station. Auf näheres Befragen gibt sie an 0,35 l Rotwein tgl. zu konsumieren („Eine Flasche alle 2 Tage, um mich abends zu entspannen.“). Was glauben Sie? Wie viel Alkohol ist unschädlich? Teilen Sie es uns in den Kommentaren mit!

Seit ca. einem Jahr sei es auch zu einer zunehmenden Vereinsamung aufgrund der schlechten Beweglichkeit gekommen. In der körperlichen Untersuchungen zeigen sich Ausfallerscheinungen, die mit einer Schädigung der Nervenendigungen vereinbar sind. Befunde, die zu einem typischen „neurologischen Schwindel“ passen, finden sich nicht. Wegen des klinischen Syndroms einer Nervenenderkrankung erfolgt eine erweitere Abklärung. Im Labor finden sich vor allem keinen Vitaminmangel, Hinweise für einen Diabetes oder Blutkrebserkrankung. Mit Untersuchungen der elektrischen Nervenleitung (Neurographien) kann Ausmaß und Art des Schadens der Nervenfasern bewiesen werden.

Polyneuropathien (PNP) sind generalisierte Erkrankungen

Sie betreffen das sogenannte periphere Nervensystems. Im Gegensatz zu Gehirn und Rückenmark sind die Nervenenden betroffen, die außerhalb des Rückens Informationen für Bewegung, Gefühl und Vegetativum aufnehmen und weiterleiten. Ist nur ein einzelner Nerv betroffen, spricht man von Mononeuropathien (Paradebeispiel ist das Karpaltunnelsyndrom).

Die Häufigkeit der PNP wird allgemein unterschätzt

Hätten Sie das gewusst? Allein wegen eines Diabetes mellitus und Alkoholismus ist die Annahme von 3–8% Betroffenen in der Gesamtbevölkerung realistisch. Es gibt eine zunehmende Tendenz im Alter. Insbesondere die nicht-vererbten Formen treten im höheren Lebensalter auf. Aufgrund der Zunahme von Stoffwechselerkrankungen und der Behandelbarkeit von Lepra spielen die infektiösen PNP kaum noch eine Rolle. Eine Borrelieninfektion kann eine PNP nach sich ziehen, ist aber auch aus persönlicher Erfahrung eine Rarität. Im zunehmenden Lebensalter nimmt die Nervenleitgeschwindigkeit natürlicherweise ab, so dass eine gewisse altersbedingte Dysfunktion der peripheren Nerven häufig nachzuweisen ist.

Die wichtigsten Ursachen der PNP sind sekundäre und toxische Formen

Zu unterscheiden sind neben idiopathischen und unspezifischen Formen:

  • Entzündliche PNP
  • PNP durch Gifte
  • Sekundäre PNP

Als Ursache für die PNP kommen mehr als 200 Ursachen in Frage, die nur durch umfangreiche Untersuchungen erschlossen werden können. Ca. 80% der Fälle lassen sich aber durch folgenden Ursachen erklären:

  • Diabetes mellitus: 35%
  • Blutkrebserkrankungen (Paraproteinämien): 10%
  • Alkoholmissbrauch: 10%
  • Chronische Entzündung der Nervenfasern: 10%
  • Infektiös: 5% (je nach Studienpopulation kann der Teil der HIV-Infizierten bis zu 15% ausmachen)
  • Nierenschwäche: 4%
  • Vitamin B12-Mangel: 3,5%

Vielfältige Beschwerden zeigen sich bei der PNP

Am häufigsten beklagen Menschen eine Taubheit, Schmerzen oder Brennen der Extremitäten. Die Verteilung der Beschwerden ist in der Regel socken- oder handschuhförmig. Im weiteren Verlauf kann sich eine Muskelschwäche, z.B. eine Fußheberschwäche entwickeln.

Beim älteren Menschen kann das störendere Initialsymptom auch eine Balancestörung mit Gangunsicherheit sein. Sind Fasern betroffen, die zum spinalen Hinterhorn ziehen, kann sich eine Lagesinnstörung entwickeln. Der Patient ist dann sturzgefährdet und bietet ein breitbasiges Gangbild. Neurologen sprechen hier von einer „afferenten Ataxie“. Im Gegensatz zu Kleinhirnstörungen verstärken sich die Symptome bei Dunkelheit.

Seltenere Symptome sind

  • ein zusätzlich Befall in Rumpfnähe (Oberschenkel!) oder ein Beginn an den Armen
  • Beteiligung der Rumpfnerven
  • Beteiligung der Hirnnerven (welche entwicklungsgeschichtlich zu den peripheren Nerven zählen; Fazialisparese mit Mundschiefstand)
  • ein asymmetrisches Krankheitsbild, bei dem gleichzeitig oder zeitlich versetzt mehrere Nervenstämme beteiligt sind (Mononeuritis multiplex)

Leiden Sie an einer Polyneuropathie? Was bemerken Sie selbst?

Die obligate Diagnostik der PNP sollte dem Hausarzt vertraut sein

Hierdurch können die häufigsten Formen erkannt werden. Ggf. muss aber ein Neurologe für die Diagnostik hinzugezogen werden, um eine erweiterte Diagnostik einzuleiten und elektrophysiologische Messungen durchzuführen.

Entsprechend der S1-Leitlinie „Diagnostik bei Polyneuropathien“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie gehört zu den Basisuntersuchungen:

  • obligat:
    • Krankengeschichte
    • Kinische Untersuchung
    • Standardlabor
    • (Elektrophysiologie; Kommentar s.u.)
  • fakultativ:
    • Erweitertes Labor
    • Nervenwasseruntersuchung (Lumbalpunktion)
    • Muskel-/Nerv-/Hautbiopsie
    • Genetik
    • Bildgebende Diagnostik (Sonographie, MRT)

Die Vorgeschichte und Beschwerdeschilderung der Menschen führt zum Verdacht einer PNP. Gezielt sollte nach sensiblen Symptomen wie Kribbeln, Taubheit und auch Gangunsicherheit gefragt werden. Zu typischen motorischen Symptomen gehören eine Muskelschwäche oder Muskelkrämpfe. Hier ist es hilfreich nach motorischen Meilensteinen zu fragen, also, ob beispielsweise neue Hilfsmittel nötig waren, oder die Treppe nicht mehr gestiegen werden kann. Auch schwer heilende Wunden können auf eine PNP hinweisen. Wichtig für weitere therapeutische Entscheidungen sind die Dauer der Symptome (< 4 Wochen = akut, 4-8 Wochen = subakut, > 8 Wochen = chronisch). Die Vorgeschichte ist mit Fragen nach Grunderkrankungen, Operationen, besonderen Behandlungen und Giften zu ergänzen. Es gibt unzählige Polyneuropathie-induzierenden Medikamenten (u.a. Chemotherapeutika, Statine, Bortezomib, Linezolid, Nitrofurantoin), so dass in der Regel ein Blick in die Fachinformation nötig ist.

Zum Basisprogramm bei der klinischen Untersuchung gehört eine Untersuchung der Muskelkraft, die Untersuchung der Sensibilität unterschiedlicher Qualitäten (Berührung mit socken-, strumpf-, handschuhförmiger Einschränkung, Schmerz, Temperatur), die Untersuchung des Lagesinns mit der Stimmgabel, die Untersuchung der Muskeleigenreflexe und, wenn möglich, ein Stehversuch sein.

Im Standardlabor sollen die häufigsten Ursachen der PNP abgeklärt werden. Elektrophysiologische Untersuchungen werden in vielen Arztpraxen nicht vorgehalten. Außerdem wird bei dem häufigen Krankheitsbild der PNP eine regelhafte Untersuchung nicht möglich sein.

Wann sollte ein Neurologe hinzugezogen werden?

Adaptiert an die Nationale Versorgungsleitlinie „Neuropathien bei Diabetes“ sollte eine Überweisung zum Neurologen oder eine konsiliarische Vorstellung vorgenommen werden, wenn eine oder mehrere der folgenden Befundkonstellationen zutreffen:

  • Überwiegen von Muskelschwäche (z.B. beidseitige Schwäche der Fußhebung) Gefühlsstörungen
  • Ausgeprägte vegetative Symptome (z.B. Herzfrequenzschwankungen, starkes Schwitzen, Probleme mit der Blasenfunktion9
  • Stark ausgeprägte Asymmetrie der neurologischen Ausfälle, Mononeuropathie und Hirnnervenstörung
  • Wenn auch Körperstamm nahe Symptome bestehen (z.B. Schwäche der Beinbeuger auf beiden Seiten)
  • Rasche Entwicklung der Symptome
  • Fortschreiten der Symptomatik trotz Optimierung der Stoffwechsellage bei Diabetes mellitus
  • Familienanamnese einer Neuropathie

Die Therapie der PNP wird in symptomatische und kausale Therapie, welche von der Genese abhängig ist, differenziert

Symptomatische Therapie

Die symptomatische Therapie der PNP beginnt zunächst mit einer guten Haut- und Nagelpflege. Ähnlich der Vorbeugung des diabetischen Fußes sollten die Extremitäten regelmäßig mit neutraler Seife gewaschen werden. Danach sollten die Extremitäten gut abgetrocknet und mit einer milden Hautcreme eingecremt werden. Wichtig ist eine Vermeidung von Hautläsionen mit konsekutiv schwierig abheilenden Wunden. Die Nägel sollten kurz gehalten werden. Vielleicht habe Sie auch Tipps für andere Leser? Was machen Sie? Schreiben Sie uns in den Kommentaren!

Physiotherapeutisch und ergotherapeutisch stehen die Verbesserung der Tiefenwahrnehmung und Reduktion der Missempfindungen im Vordergrund. Hilfreich ist ein supervidiertes Eigentraining der Kraft und Ausdauer, Balancetraining, Training auf einem auf speziellen Therapiegeräten und Vibrationsplatten, Therapie mit Igelbällen, Kiesbett und Training auf unterschiedlichen Untergründen. Aus der eigenen Klinik berichten Therapeuten und Patienten auch immer wieder von sehr guten Erfahrungen mit spezieller Fußgymnastik. Außerdem sollten Unterkünfte auf Sturzfallen geprüft werden. Bei Störungen der Bewegung (Fußheberparese) sind Hilfsmittel oder, wenn das Ausmaß nur gering ist, Kinesiotapes oder festes Schuhwerk/Wanderschuhe sinnvoll. Die befürchtete Inaktivitätsatrophie lässt sich durch wenige Muskelanspannungen/Tag vermeiden, die sich ohne wesentlichen Aufwand in die tägliche Gymnastik integrieren lassen.

Medikamentös werden gegen die sensiblen neuropathischen Symptome Antidepressiva, Antiepileptika und Analgetika eingesetzt. Gut verträglich und geringe Wechselwirkungen hat Gabapentin. Alternativ bietet sich Pregabalin an, welches in der Regel 2x/täglich eingenommen wird. In der Regel limitieren unerwünschte Arzneimittelwirkungen die Höchstdosis. Besonderes bei der diabetischen PNP wirkt Duloxetin, ein SSRI, gut. Weitere wirksame Mittel sind Amitryptilin, Carbamazepin, Phenytoin, Topiramat, Baclofen, Mexiletin und Dextromethorphan. Letztere sind allerdings gerade für den älteren Menschen potentiell inadäquat und sollten vermieden werden. Manchmal müssen o.g. Substanzen mit Schmerzmittel kombiniert werden, um Durchbruchschmerzen abzumildern.

Als Reservemittel kann ein Capsaicin-Pflaster erwogen werden. Es ist zugelassen zur Behandlung von peripheren neuropathischen Schmerzen bei Erwachsenen, die nicht an Diabetes leiden. Aus eigener Erfahrung hat es beispielsweise gute Wirksamkeit bei der Zoster-Neuralgie. Die Applikation sollte nach den Anwendungsvorschriften erfolgen, da es potentiell hautreizend für den Anwender ist.

Das Sekretolytikum Ambroxol wirkt auch als sehr starkes Lokalanästhetikum. Auch die Erfahrung in der eigenen Klinik bei wenigen Patienten ist sehr gut.

Unter den physikalischen Behandlungen sind die Transkutane Nervenstimulation (TENS) oder hydroelektrische Anwendungen wie Stangerbäder oder Zwei-Zellen-Bäder nützlich.

Kausale Therapie

Die meistens toxischen PNP (alkoholisch, diabetisch, medikamentös) werden primär durch Verzicht auf die Noxe und Optimierung der Stoffechselparameter behandelt. Vorbeugend kann vor neurotoxischen Chemotherapien eine Kryotherapie der Extremitäten erwogen werden, indem man Baumwollhandschuhe und -socken aus dem Tiefkühlfach vor Infusion überstreift. Sekundär auftretende PNP, inbesondere die PNP durch Vitamin B12-Mangel, werden durch Substitution therapiert.

Für die Therapie weiterer PNP-Formen sollte eine Aufklärung durch Ihren Arzt / Ihre Ärztin erfolgen.

Fehlt Ihnen ein Aspekt in dem Artikel? Stellen Sie uns gerne Fragen!

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